Rückblick: Höhenflug, Schreiben im Alpenraum

Nachwuchslese, Tyrolienne und Dringliches in Mundart – Literaturtage in Zug, 23.–25. März 2018

Debüts und Mundart, mit diesen Schwerpunkten ging das Literaturfestival Höhenflug in die siebte Ausgabe, wie gewohnt im Burgbachkeller-Theater in Zug und mit Beteiligung von Tiroler und Südtiroler Gästen, hatte dieses mittlerweile zur Institution avancierte kleine Festival doch als Treffen des ISSV mit dem Turmbund Innsbruck begonnen. Thomas Schafferer versammelte eine Runde aus dem Umkreis seines Verlags Cognak & Biskotten, deren Auftritte von schräg-ironischen Songs von Wolfgang Nöckler durchzogen und aufgelockert wurden. Leider war der bekannte Romancier Sepp Mall aus Meran verhindert, ein Verlust, den «unser» Erwin Messmer aber lyrisch gekonnt, pointenstark und und gewitzt auszugleichen vermochte. Den Abend der Superstars bestritt weiter der neuerdings als Mundartautor brillierende Hanspeter Müller-Drossaart mit Gedichten in den Obwaldner und Urner Idiomen. Gredi üüfe brachte mich mit dem zeitweise exotischem Vokabular an die Grenze des Verständlichen, was dem brillanten Vortrag des Schauspielers keinen Abbruch tat, sondern zu vergnüglich-profunden Entdeckungen ins Landesinneren lockte.

Entdeckungen gab es auch am Vormittag mit den Erstlingen zu machen. Bei Julia Weber und Luise Mayer führten sie ins real existierende Familienleben der gegenwärtigen helvetischen Alltagswirklichkeit. Ihre Romane bleiben dabei nicht bei sozialpsychologischen Befunden stehen, sondern verhandeln deren Analyse in formal gekonnter Prosa unter Wahrnehmung persönlicher Betroffenheit. Gewalt und Überforderung zeichnet diese Fallgeschichten, zu denen Arja Lobsiger eine poetisch-verträumt grundierte Chronik beiträgt: Schicksalsschläge umzingeln ein Abbruchhaus, das zum Symbol zeitlicher Bedingtheit wird. Gianna Molinari geht von einem verbürgten Ereignis aus, das die Einordnung als Unfall nicht verdient: ein Flüchtling, der sich in einem Flugzeug versteckt hat, fällt vom Himmel und vor die Nachtwächterin auf einem verlassenen Industriestandort. Barbara Schiblis Familie fokussiert auf Zwillingsschwestern und ihr gegenseitiges Aufeinander-Bezogensein. Die eine erforscht die Flechten, wobei deren symbiotischer Charakter das problematische Verhältnis der beiden widerspiegelt. Kürzeste Formen prägen die Erzählminiaturen von Judith Keller, deren «Fragwürdige» zwischen Skurrilität und Komik oszillieren und mit ihrer beinahe aphoristischen Lapidarität zu einem willkommenen Kontrast verhalfen.

Der Lesebühne-erprobte Liedermacher und Kurzprosaist Wolfgang Nöckler stimmte uns «liederlich» auf den Tiroler Nachmittag ein, mit Konjunktiv-Reigen in Teldra, dem Dialekt aus dem Ahrntal, Südtirol, und originellen Miniatur-Narrativen. Alina Özyurt, die auch Zeichnungen mitgebracht hat, entfaltete einen wienerisch geprägten Bilderbogen, vom Backhendl bis zum Kartoffelstampf. Angelika Polak-Pollhammer führte zurück ins Südtirol und schrammte gekonnt der Dialektgrenze entlang mitten ins lokale Leben der Stammbäume, Immigrationen und Jahreszeiten, der Beerdigungen und Hochzeiten. Urbaner geht es bei Christian Kössler zu, in dessen bestialischem Innsbruck schon mal ein Vampir als Taxigast mitfährt: schwarzhumorig kurvt er durch die Sagenwelt, die er grell zu aktualisieren weiss. Tätschmeister Thomas Schafferer schliesslich führte einige seiner Polaroids vor, die Eindrücke vom Plattensee, der Camarque, aber auch aus Osvjecim (Auschwitz) neben Überraschungen wie dem Luzerner Sedel vor unseren Ohren anpinnen – was, punkto Letzterer, nicht erstaunlich ist, da er einige Zeit als Stadtschreiber in Willisau zu Gast gewesen war. Anmerkungen zu Zimmerwald (Züri West), Bern (Büne Huber) hingegen zeugen durchaus von regional orientierter Weltläufigkeit. Solche atmen auch die Aktionen seiner Zeitung zu literarischen Themen wie Demo, Aufputschmittel, Konservendose oder Fahne – alles Unternehmungen, die hierzulande Neid entfachen könnten.

Hatte uns bereits Erwin Messmer auf den Dialekt eingestimmt («im Fegfüür, bis d Ewigkeit endlich fertig isch»), so ging in der Matinee vom Sonntagmorgen eine runde um Daniel Rothenbühler den Bedingungen und Möglichkeiten der Mundart auf den Grund. Da führte Beat Sterchi den aktuellen Boom auf das gestärkte Selbstbewusstsein im Zuge der ökonomischen Aufwärtsspirale zurück. Polak-Pollhammer unterstrich die Bedeutung des Dialekts als Nische für die Lyrik, und Müller-Drossaart, der von der Bedeutung der Wurzeln gesprochen hatte, brach plötzlich eine Lanze für das Hochdeutsche, das unverzichtbar, weil viel differenzierter sei.

Teilgenommen hat auch Ariane von Graffenried, die Bernerin, die im Duo mit dem Walliser Rolf Hermann für die fulminante, ans literarische Kabarett angenäherte Eröffnungs-Performance gesorgt hatte. Dieser Freitagabend brachte auch ein Wiedersehen mit Melinda Nadj Abonji, die in ihrem neuen Roman das tödliche Schicksal eines jungen Roma in der Wojwodina schildert, der von seinen Eltern in den Krieg geschickt wird, wo er, wie die nachforschende Cousine erfährt, bereits vor einem Einsatz in Vukovar den Leiden des Kasernenbetriebs erliegt. Auch Podiumsteilnehmer Beat Sterchi las, diesmal nicht in Mundart: eine Erzählung, die um Hodler im Bann des Niesen herumfabuliert.

Im Zeichen des Debüts wiederum Sebastian Steffen, der ab und an konsequent doppelsprachig schreibt (Seeländer Dialekt und «Standardsprache») und die Stimmung Biels im Winter («ungerem Miuchglasdach») mit den Liebeswirren eines scheuen Anfängers konterkariert. Steffen erwies sich auch als Chansonnier, will sagen: Troubadour von Rang. Frisch ab Manuskript stellte Andrea Rohner ihre Erzählung Dänu vor: der junge Protagonist, neu im «Pastellquartier», sucht sich einer Nachbarin anzunähern, «chli sozialisiere», nur um in allerhand Stimmungstrubel zu geraten.

Den Schlusspunkt setzte eine gestandene Autorin: Verena Stössinger führt ihre Gespenstersammlerin als Sagenforscherin und Touristin auf die Färöer Inseln, wo sie Geschichten um Selbstmörder, die zu Seehunden werden, vorfindet. Schreiben war vor Zeiten verboten, aber Geschichten gibt es nach wie vor, vor allem im Wirtshaus.

Den Gästen gefielen die drei Tage bei uns, vor allem der Blick vom Hotel auf den See. Die Geselligkeit vor Bar und Büchertisch kam nicht zu kurz, den Lesungen wohnten durchwegs zwei bis drei Dutzend Personen bei, die vielfach vom Gespräch mit den Lesenden profitierten. Nach dem Festival ist vor dem Festival – bis in drei Jahren!

Adrian Hürlimann

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