Rückblick: Höhenflug, Schreiben im Alpenraum

Literaturtage Zug 2.–4. März 2012

Freitag 2. März 2012

Am Eröffnungsabend vom 2. März war der Saal des Burgbachtheaters erfreulich voll. Andreas Iten bedankte sich in seiner Ansprache mit humorvollen und herzlichen Worten bei all den Sponsoren, welche den Anlass erst möglich gemacht hatten, allen voran der Stadt und dem Kanton Zug, welche einmal mehr sehr grosszügig gewesen waren. Doch auch die Innerschweizer Kantone und mehrere Stiftungen hatten unserem literarischen Anlass kräftig geholfen.
Der Zuger Stadtpräsident Dolf Müller, der kein Bürgermeister sein will – unsere österreichischen Kolleginnen und Kollegen hatten da genau nachgefragt – begrüsste uns mit einer sympathischen Rede. Es war spürbar, dass er Kunst und Kultur sehr zugetan ist und auch der Literatur, dem oft vergessenen Stiefkind im Kulturbetrieb, offen und interessiert gegenüber steht.
Dann startete der Abend mit einem ersten literarischen Höhepunkt, dem Autor Klaus Merz. Theres Roth-Hunkeler stellte jeweils die Autoren vor. Sie machte dies sehr persönlich, zutiefst informiert und interessiert. Klaus Merz las aus seiner Novelle «LOS». Als gebürtiger Aargauer sieht er die Alpen wohl nur von Ferne. Doch in dieser Novelle waren wir mitten auf dem Berg, wo der Protagonist Thaler beim Absturz über ein Schneefeld einen langsamen Tod findet. Er begann mit folgenden Sätzen: «‹Mein Thaler hat sich verwandert.› An diesen Satz deiner Frau klammerten wir uns, zusammen mit deinen grossen, schweigsamen Kindern, und begannen nach allen gescheiterten Nachforschungen unseren Alltag ohne dein Dabeisein langsam wieder in seine gewohnten Bahnen zurückzulenken.» Die knappen unsentimentalen Sätze gingen unter die Haut und zogen uns schnell in ihren Bann.
Im zweiten Teil des Abends verzauberten in «Lutz und Lutz» der wunderbare Basler Dichter Werner Lutz und Rudolf Lutz, international renommierter klassischer Improvisateur am Klavier, in einer kongenialen Zusammenarbeit. Lyrik in knappester Form voller Bilder, Gerüche, Stimmungen – kein Wunder sagt Erwin Messmer über Werner Lutz: «… ein grosser Schweizer Dichter, der weder in der Schweiz noch im Ausland öffentlich wahrgenommen wird. ‹Berühmt, aber nicht bekannt›, um ein Wort des deutschen Poeten Hans-Jürgen Heise auf ihn anzuwenden.» Ich gehe mit Erwin einig und schwöre, es lohnt sich diesen grossartigen Dichter und Verdichter kennen zu lernen, der auch ein begabter Maler ist.
Heidy Gasser

Samstag 3. März und Sonntag 4. März 2012

Gut doppelt so viele Gäste wie erwartet fanden sich im vergammelt-charmanten «Lade für Soziokultur» zur Lyrik-Matinee ein. Als das Stuhlrücken ein Ende hatte, begann Lisa Elsässer, die Poetin aus dem Schächental UR. Mit expressiv tiefgefrorenem Pathos skandierte sie die Bilder einer Jugend in karger Bergwelt herbei, wo die erzählende Stimme «mit den Rehen sprach wie mit / dem Hund den wir nicht hatten». Schotter, Laubsack, gemähtes Gras und Dohlen umreissen bildstark eine Welt, in der es im Sommer drinnen kühl war und im Winter umgekehrt. Heimat wird da im Wort bewahrt.
Max Huwyler präsentierte für einmal kein Mundartprogramm, und er blieb nicht in der Innerschweiz, sondern entführte uns in die Ückermünder Heide, um sich auf Umwegen dem Steuerparadies Zug mit seiner standortvermarkteten «Belle vue» anzunähern, mit der träfen Kürze, die wir aus seinen dialektischen Dialektzeilen kennen und schätzen. Gut in die prägnante Expressivität fügten sich die im nachdenklichen Konversationston gesprochenen Verse der Zürcherin Brigit Keller. Es geht um magische Erscheinungsbilder der Natur, um Quittenblüten, Schmetterlinge, um Kontemplation und Sinnfragen, aber auch um erotische Erinnerungen an die Haut der Freundin, die in windbewegten Meeresoberfläche Wiedergängertum feiert. Frauenfiguren aus der Geschichte treten uns entgegen, als Brieffreundinnen Zeitreisen antretend. Eine reife, herbstliche Dankbarkeit für das Erlebte klingt in diesen Zeilen an, auch wenn dem Ich bleibende «Sehnarben» eingeschrieben sind.
Erika Kronabitter aus Feldkrich umkreist die Arten des Auseinandergehens, der Trennungen vom Requiem für eine Mutter bis zu den Erinnerungen an ein Du, zuweilen die leise Melancholie einer Mascha Kaleko streifend, aber auch auf Friederike Mayröcker Bezug nehmend.
Annemarie Regensburger aus Imst sah sich durch den Veranstaltungsort gefordert, die «sozialkritische Schublade» zu bedienen. Kein Problem für die temperamentvolle Tirolerin, Köchin von Beruf, die weder stilistisch noch thematisch ein Blatt vor den Mund nimmt, sondern die Geschichte der Hexenverfolgungen über die Hackordnung der Prozessionsrituale bis in die Kritik an den Saatgutkonzernen in einer Direktheit überbringt, die nur der Dialekt schaffen kann. Zunehmende Begeisterung löste ihr performativer Auftritt aus, der in einer Huldigung an die Europaflagge gipfelte.
Für einen besinnlichen Ausklang sorgten Bosko Tomasevics zwischen Exil und Pathos der Erinnerung gleitende Reflexionsgedichte, in welchen der in der Vojwodina aufgewachsene Literat, den es an die Uni Innsbruck verschlagen hat, die Starre der «Zwangsaufenthalte» beklagt und die Erinnerung an die Heimat mit sinnlichen Erfahrungen wie dem Geruch gefrorener Wäsche wach hält.
Der Samstagnachmittag war den Lesungen von sechs Gewinnern des ISSV-Kurzgeschichten-Wettbewerbs vorbehalten. Ausgehend von einem Inglin- und einem Federer Zitat galt es, «Berggeschichten» zu ersinnen. Erika Frey Timillero verlegte ihren Krimi in eine literarische Raterunde, wandernd unterwegs, in welcher der Erzähler ob der Treue seiner Frau irre wird, zumal der Spielleiter unlängst Witwer geworden ist und offenbar das Mitleid der weiblichen Umwelt erregt.
In Bernhard Grebers Militärgeschichte sind die Soldaten Biffi und Burger drei Wochen lang in einer Berghütte im Hinterrhein eingeschneit, kämpfen mit den Mäusen und dem Hunger und werden von ausgeschickten Helikoptern nicht entdeckt.
Alpinist Kurt Haberstich schildert den Ausflug eines routinierten Berggängers auf seinen Hausberg, den Pilatus. Eine übermütige Kletterei über eine Steilwand führt zu einem Absturz, den der tagelang im Seil Hängende nicht übersteht, worauf er nur noch tot geborgen werden kann.
In Adrian Hürlimanns Telefondialog kommt eine Kunstfreundin dem Dieb eines im Museum gestohlenen Klee-Aquarells auf die Schliche und zwingt sich ihm waghalsig als Geliebte auf.
Hans Schöpfer spitzt seine Satire auf den Heiratsberg Rigi zu einem Theaterchaos mit urigen Trachtenmädchen zu, in deren Verlauf die Reihenfolge der zu trauungswilligen japanischen Paare gehörig durcheinander gerät.
Therese Martino-Fässler schildert die Aussicht auf den Pilatus, den Hausberg, den der todkranke Franz täglich von seinem Spitalbett aus betrachtet. Infolge Medikation verfällt er in den Wahn, der vertraute, aber immer unheimlicher werdende Berg rücke täglich näher.
Im Quartett vom Vorabend präsentierte Theres Roth-Hunkeler die Thalwilerin Monika Cantieni, die in ihrem neuen Roman in Seconda-Kinderperspektive eine Jugend im italienischen Immigrantenmilieu der 70erjahre adäquat erfasst hat und den Spracherwerb auf vergnügliche Weise mit dem Erwerb der neuen Heimat verquickt. Christoph Schwyzer aus Luzern gibt in «Wenzel» das Porträt eines Zauderers, der Orte des Stillstands aufsucht, Anstoss durch öffentliches Notieren erregt und das Nichtstun als ersten Schritt in ein selbstbestimmtes Leben erfährt. Einen tiefen Eindruck hinterliess die Meranerin Sabine Gruber, die in ihrem jüngsten Roman die verdrängte südtirolerisch-deutsche Geschichte wie ein Fotoalbum aufrollt. Stillbach wird zum Sehnsuchtsort der Hausangestellten, die in faschistischen Rom Verdienst suchen, derweil die Männer zwischen Partisanenkampf und Abessinienkrieg aufgerieben werden oder in die Schweiz fliehen. Franziska Greising schliesslich schildert eine Jugend in einer mittleren Schweizer Stadt, die Luzern heissen könnte. Filmabende der Eltern mit Löwen und Elefanten bringen die Zweifel der Erzählerin nicht zum Verschwinden, ob diese wirklich nach Afrika gereist sind. Auf die Rituale der Fastenzeit und des Advents ist mehr Verlass in diesem authentischen Prosabericht.
Der Abend war einem «Bündner Block» gewidmet, der von der Radiofrau Esther Krättli moderiert wurde. Leo Tuor, zuweilen Schafhirt, sieht seine Heimat im Sursilvan gegeben, nicht in der Schweiz. In seinem Buch über die Jagd schildert er diese Tradition während 20 Generationen bis zum literarisch bewanderten Jäger Settembrini. Die Lyrikerin Leta Semadeni aus Scuol bewegt sich in zwei unterschiedlichen Wortlandschaften, Vallader und Deutsch, in denen «jedes verworfene Wort schreit» und Fenster «Öffnungen für Gespenster» sein können. Küchengedichte schaffen die nötige Erdung. Angelika Overath aus Karlsruhe schliesslich lebt seit Jahren teilzeitllich in Sent, wo sie die Kultur des Unterengadins lieben gelernt hat und Sprachwochen zum Vallader durchführen will. Ihr Senter Tagebuch bildet einen vermittelnden Beitrag zum Themenschwerpunkt, der im Gespräch zwischen Krättli und der Runde faszinierende Gestalt annahm. In einer Spätvorstellung präsentierte Claudia Schmid einmal mehr ihren grossartigen Film über die Literaturlandschaft Innerschweiz.
Die Matinee am Sonntag gehörte zunächst ganz dem volkskundlichen Recherchierausflug des Pirmin Meier, der jüngst die Sagenwelt um den Schmied von Göschenen durchforstete, wobei er die mythischen Grundlagen berichtigte (zugunsten der Brückenbaukunst der Walser) und die Seele des Gotthardraums in neuem Licht erstrahlen liess. Narrative Geschichte, packend und, wie immer bei Pirmin, eine masslose Überforderung.
Der Schauspieler Sigi Arnold wandte sich dem Tagungsort Zug zu, indem er eine Collage von zugerischer Literatur auftischte, pathosgeladen beginnend mit einem priesterlichen Melodram Isabelle Kaisers. Er zitierte Politikerreden und Sagen und wies auf den Wahlzuger J. M. Simmel hin, wobei er sich punkto Materialsuche auf Ueli Suters Standardwerk abstützen konnte.
Der gelungene Literaturmarathon, der heuer von 600 Personen besucht wurde, schloss mit dem Auftritt des Solothurner Mundartautors Ernst Burren, der seit jeher die Alternative zum «pluemete Trögli» verhandelt hat, will sagen härteste Sozialkritik und scharfsinnigsten Realismus auffährt, wogegen dem Biertisch das Lachen vergehen dürfte. Hinter der Idylle ortet er alltägliches Elend und kaputte Jugend. Das letzte Wort behielt der Unterägerer Thomas Brändle, in dessen Romanen, Glossen und Editionen sich alles ums liebe Geld dreht, sei es im krisengeschüttelten Vatikan, sei es in der Kritik der virtuellen Geldschöpfungssucht der Notenbanken.
Es waren anregende, (auch von Politikern) bestens besuchte, vom Wetter begünstigte Tage, die nach einer Wiederholung in drei Jahren rufen!
Adrian Hürlimann
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